Ode an die Vergesslichkeit

Vergesslichkeit wird von einzelnen Zeitgenossen noch immer als Schwäche gesehen und nicht als Tugend.

Tatsächlich habe ich fast alles, was ich kann, nur durch die Konsequenzen meiner Vergesslichkeit gelernt. Und ich behaupte, dass niemand als Unternehmer erfolgreich sein kann, ohne ein Mindestmaß an Vergesslichkeit.

Warum?

Hier sind meine Argumente:

1. Vergesslichkeit stärkt den Willen

Als ich Schüler war, hatte ich mir in den Kopf gesetzt, einen Blumentopf bei Jugend forscht zu gewinnen. Im zweiten Anlauf kam ich auch durch alle Instanzen bis zu einer Platzierung unter den Bundessiegern.

Bei der darauf folgenden Einladung zur Nobelpreisverleihung hatte ich mich in Stockholm in eine amerikanische Kollegin verliebt, die einen ähnlichen Wettbewerb in den USA gewonnen hatte und ebenfalls in Stockholm zu Gast war.

Klar, dass mich fortan zuhause das Fernweh bitter plagte.

Also kratzte ich all mein Geld zusammen und kaufte mir einen Flug nach Boston, wo die Gute derweil in Harvard brillierte. Nur noch dieses Ziel vor Augen, vergaß ich jedoch die Gültigkeit meines Reisepasses rechtzeitig zu kontrollieren. Erst am späten Vorabend des morgendlichen Fluges, als der Rucksack bereits gepackt war, fiel mein Blick auf den abgelaufenen Reisepass.

Ein paar Telefonate später hatten mir Flughafen und Konsulat bestätigt, dass ich ohne gültigen Reisepass den Flughafen in Boston nicht verlassen könnte und im nächstbesten Flieger wieder die Heimreise antreten müsste.

„Ich werde nach Boston fliegen“, sagte ich mir. „Ich WERDE nach Boston fliegen“.

Und das tat ich auch. Um sieben Uhr morgens des folgenen Tages saß ich im Zug zum Flughafen und war stolzer Besitzer eines nagelneuen Reisepasses.

Wie das?

Wo ein Wille ist, da ist meistens auch ein Weg.

Ich war mir nicht zu schade, mitten in der Nacht mit beiden Fäusten an der Haustür die zuständige Mitarbeiterin des Gemeindeamtes zu wecken und sie dann mit Engelszungen zu überreden, sofort mit mir zu ihrem Amt zu fahren und mir einen neuen (damals noch grünen) Reisepass auszustellen.

Nach meiner Rückkehr bekam sie außerdem einen riesigen Blumenstrauß.

2. Vergesslichkeit macht fit

Als Student im zweiten Semester verbrachte ich einen Sommer in meinem Geburtshaus in Schleswig-Holstein, um das dortige Musikfestival zu besuchen.

Das Haus stand im Süden von Heide, einer kleinen Stadt von etwa 5 km Durchmesser. Ganz im Norden wohnt mein Onkel, der mir einen Firmenwagen zur Verfügung stellte.

Darum radelte ich abends quer durch die Stadt zu ihm, schloss mein Rad ab, nahm das Auto, fuhr zurück zu mir, zog meine Jeans aus und den Anzug an, und begab mich zum Auftritt des Freiburger Barockorchesters.

Das Konzert war wunderbar.

Später am Abend fuhr ich das Auto wieder zu meinem Onkel und stellte dort fest, dass ich den Schlüssel des Fahrradschlosses in der Jeans zuhause vergessen hatte.

Es gab zwei Möglichkeiten: mit dem Auto zwei Mal quer durch die Stadt und anschließend ein drittes Mal per Rad. Oder dieselbe Strecke zwar zu Fuß, dafür aber nur einmal. Letzteres war meine Wahl.

Und so kam ich nach über einer Stunde Fußmarsch zuhause an und stellte fest, dass ich den Haustürschlüssel im Auto vergessen hatte.

Insgesamt bin in dieser Nacht über 15 km zu Fuß gelaufen.

3. Vergesslichkeit lehrt die Ruhe im Sturm zu bewahren

Nachdem ich als Austauschstudent in Belgien zwei Mal hintereinander den Termin meines Seminarvortrags vergessen hatte, folgte ich spontan dem unbedingten Ruf nach Ortswechsel und trampte ein Wochenende lang durch England.

Trotz 1,50m breitem „I am harmless“-Schild wollte mich partout niemand mitnehmen, so dass ich beschloss ab Hove den Zug zu nehmen.

Am Bahnhof wollte niemand meine belgischen Francs gegen ein Ticket tauschen, auch nicht gegen britische Pfund, so dass ich zum nächstgelegenen Geldautomaten zurück in die Stadt fahren musste. Schwarz mit dem Bus.

Meinen Rucksack wollte ich aber nicht mitschleppen, ein Schließfach gab es nicht (hätte mir zu denken geben müssen… hatte es aber nicht), und die Dame am Ticketschalter weigerte sich, meinen Rucksack bei sich unterzustellen.

Darum stellte ich ihn einfach an eine Wand in ihrer Sichtweite, erklärte ihr, dass sie zwar nicht für den Rucksack verantwortlich sei, ich mich aber trotzdem freuen würde, wenn sie ihn mit einem Auge…

Als ich zurück kam, war der Rucksack weg. Und mit ihm die Ticketverkäuferin (Schichtwechsel). Auf meine Fragerei bei allen Leuten im Bahnhof meinte ein Schaffner, ich solle in den ersten Stock zur Polizei gehen, die wisse vielleicht mehr.

Das tat sie in Person eines ca 2,20m großen Hünen, der sich ziemlich mächtig vor mir aufbaute, als er mir vom Bombenalarm erzählte und davon, wie er persönlich den Rucksack aufmachte, nicht wissend, ob eine Bombe oder nur meine schmutzige Wäsche darin sei.

Und ich musste weder lachen noch weinen…

4. Vergesslichkeit schärft die Rhetorik

Vorgestern bin ich nach Berlin geflogen um dort das Konzert der Improvisationspianistin Gabriela Montero zu besuchen. Leider hatte ich das Ticket zuhause vergessen. Und den einzigen Schlüssel meiner noch neuen Wohnung hatte ich bei mir in Berlin.

So vergesslichkeitserfahren, wie ich bin, zweifelte ich keine Sekunde daran, auch ohne Ticket zu dem Konzert zu gelangen. Schließlich hatte ich während meiner ganzen Studentenzeit regelmäßig geübt, Kultur ohne Bezahlung zu genießen, und das klappte fast immer.

Und so war es auch. Jeder Einlass hat eine rhetorische Schachstelle. Ist sie erkannt, muss man nur den richtigen Schwiegersohn-Ton treffen… und schon saß ich in der zweiten Reihe und genoss das Konzert.

5. Vergesslichkeit spart Geld

Letztes Jahr wollte ich an der Reboot in Kopenhagen teilnehmen, hatte Flüge und Übernachtungen gebucht, aber leider vergessen mich bei der Konferenz selbst anzumelden.

Als mir das auffiel, war das Ding aber schon ausgebucht. Unsere freundliche Anfrage per Email mit erklärter Dinglichkeit (Flüge etc nicht stornierbar) wurde mit einem flapsigen „see you next year“ beantwortet – was in meinen Augen nichts anderes war als eine Aufforderung zur Selbsthilfe.

So flogen wir also nach Dänemark, schummelten uns natürlich zielstrebig in die Konferenz und haben nicht nur Spaß dabei gehabt, sondern auch noch 400 Euro Eintritt gespart.

6. Vergesslichkeit spart Zeit

In naiver Airmiles-Sammelwut buchte ich im Juni einen komplizierten Gabelflug so, dass ich von Sizilien bis Athen insgesamt vier Flüge brauchte. Die letzten beiden wären von München nach Zürich und von dort aus nach Athen gegangen.

Beim zeitlich knappen Umsteigen in München sah ich dort einen Direktflug nach Athen angeschrieben.

Ich setzte darum alles auf eine Karte, verpasste vorsätzlich meinen Flug nach Zürich und frug scheinheilig, ob ich nicht alternativ direkt nach Athen fliegen könnte.

So kam ich durch einen verpassten Flug am Ende früher an als geplant, und nebenbei hatte ich das Airline-Judo erfunden.

7. Vergesslichkeit macht Freude

Letztes Jahr sind wir mit drei iPhones aus den USA zurück gekehrt, die wir vor dem Zoll gut versteckt ohne Kartonage auf diverse Gepäckstücke verteilt hatten.

Zuhause angekommen stellten wir fest, dass am Flughafen offenbar jemand aus meiner unverschlossenen Sporttasche eines der iPhones geklaut hatte.

Da die anderen beiden Freunden versprochen waren, ging ich also leer aus.

Um so größer war die Freude nach knapp drei Monaten, als plötzlich ein Laufschuh nicht mehr passte und nach genauerem Blick in denselben ein emotional längst abgeschriebenes iPhone auf mich wartete. Über das ich mich für nur ein Mal Bezahlen zwei Mal freuen konnte.

8. Vergesslichkeit lehrt Niederlagen zu akzeptieren

Anfänger in Verlässlichkeit erliegen nach den ersten Erfolgserlebnissen leicht einer gefährlichen Selbstüberschätzung. Darüber bin ich schon hinaus.

Spätestens seit dem Konzert von Keane in Hamburg weiß ich das.

Auch damals hatte ich meine zwei Tickets zuhause vergessen. Aus Hamburg organisierte ich unseren Fahrer, um die Tickets nach Friedrichshafen zu bringen und sie dort einer Flugbegleiterin in die Hand zu drücken, die abends noch nach Hamburg fliegen würde. Leider war mein Mitarbeiter darin wohl noch nicht geübt genug, jedenfalls konnte er mir die Tickets nur in ein Hotel faxen.

Damit ausgestattet gingen wir kurz vor Keane noch lecker Essen. So lecker übrigens, dass wir über das Essen die Zeit vergaßen, dann zum Konzert rennen mussten und dort just in time ankamen. Nur hatte ich das Fax leider im Restaurant liegen gelassen.

Da wusste ich, dass es keinen Weg zu Keane geben sollte, ich akzeptierte meine Niederlage, und wir hatten trotzdem einen lustigen Abend.

About Peter Eich

Mathematiker und Philosoph eigentlich, Seriengründer und Investor tatsächlich. Gründer von Inselhüpfen, Radweg-Reisen, Bikemap, Toursprung, Tourbook, Bodensee-Verlag, und Cyclesummit. Außerdem Referent, Immobilien-Investor, Pilot, NLP-Coach und Barista. Und meistens unterwegs.