Die Achterbahn-Fahrt eines Helden

In meiner Firma herrscht ein klares Saisongeschäft. Oder besser gesagt ein Saisonengeschäft, denn irgend eine Abteilung hat immer Hochsaison.

Außer an zwei Wochen im Herbst, und genau dann unternehmen wir jedes Jahr mit dem ganzen Team einen mehrtägigen Firmenausflug.

Da wir alle Touristiker sind, haben wir an das Reisen natürlich entweder besonders hohe Ansprüche – oder keine. Und entsprechend weit schwingt das Pendel unserer Firmenausflüge.

Vor einigen Jahren hatten wir einmal die spontane Idee, die komplette Organisation samt Entscheidungsfindung des damals zweitägigen Betriebsausflugs an die neue Praktikantin zu übertragen.

Gesagt, getan.

Und vor allem: mit gefangen, mit gehangen.

Denn sie hat uns kurzerhand dazu überredet unsere gemeinsame Zeit im Europapark zu verbringen, also diesem riesigen Disney für Abendländer.

Und die Reise wurde denkwürdig. Vor allem für mich.

Denn ich bin ein Schisser. Und ich habe nicht nur Angst vorm Runterfallen, sondern als Hobby-Pilot kultiviere ich dieses Gefühl auch noch wohlbegründet mit der daraus erwachsenden maximierten Sicherheit in der Luft. Ein vernünftiger Pilot tut natürlich alles dafür oben zu bleiben.

Begonnen hatte unsere Vergnügungsreise ganz harmlos mit dem einfachsten aller Fahrgeschäfte. Also einem Kinderkarussell.

Und weil mir schon dort überraschend klar wurde, dass ich noch lange nicht das Ende der nach unten offenen Schisserskala markierte, begann an dieser Stelle eine andere Gewohnheit von mir langsam die Oberhand über meinen Tagesverlauf zu gewinnen.

Ich hatte nämlich bereits am Kinderkarussell die erste Grafikerin hinter mir gelassen, und nun trennten mich nur noch n-2 Mitarbeiter davon der mutigste Achterbahnfahrer der ganzen Firma zu sein.

Ein Ziel!

Und so begann unsere wundersame Reise durch die Fahrgeschäfte mit vielen Aufs und genau so vielen Abs.

Wir rauschten in Indiana-Jones-Manier auf Kohle-Wagen durch dunkle Bergwerke. Wir ließen uns von spinnenartigen Kreiseln auf und ab schwingen. Und wir schossen in stockdunklen Riesenkugeln kreuz und quer entlang unvorhersehbarer Kurven.

Das Ding begann also richtig Spaß zu machen.

Die natürliche Reihenfolge der verschiedenen Achterbahnen wurde klar durch deren Höhe markiert, und wir hatten wegen des kalten Herbsttages und des leeren Parks das Glück viel mehr Zeit in den Bahnen als davor verbringen zu können.

Irgendwann wurde es Mittag und damit Zeit für eine Pause.

Wir spazierten auf der Suche nach einem Essen durch den Park und entdeckten das, was normalerweise den Gipfel aller Achterbahnen markiert.

Wenn man davor steht, sieht man nur eine simple Doppelschiene, die steil bergauf führt. Man folgt ihr mit den Augen nach oben bis kurz über dem Himmel. Dann verliert man sie aus dem Blick wegen dieser Wolken in der oberen Stratosphäre.

Und das Prinzip der Bahn ist simpel. Nach dem infiniten Anstieg soll zuerst die potenzielle Energie in ihre kinetische Schwester gewandelt werden. Was ungefähr der Geschwindigkeit des freien Falls in einem Stahlzug aus 10 Kilometer Höhe entspricht.

Nach dem Gipfel dort ganzweitoben geht es also unvermittelt in den rasenden Fall bis zurück auf den Boden.

Und erst danach, nahe der Schallgeschwindigkeit, beginnt dann diese ganze Schleuderei.

Ich konnte zwar die oberste Stelle der Bahn von unten nicht erkennen – wegen der Wolken in der Stratosphäre – doch ich sah sofort eine geniale Monetarisierung dieses unfassbar angsteinflößenden Fahrgeschäfts: Ganz oben am Gipfelpunkt steht bestimmt ein Schild mit der Aufschrift:

„Sonderangebot! Hier aussteigen und auf der Treppe wieder runterlaufen: 1.000 Euro“

Jeder zweite bezahlt das klaglos.

Ich auch.

Mir wurde also mehr als flau im Magen, als ich dieses Monsterteil und durch es hindurch meine eigene Sterblichkeit erblickte.

Kurz gesagt gewann der Schisser in mir ruckzuck wieder die Oberhand und schob den Gewinnertyp in mir ganz weit in Richtung Enddarm.

Mir war klar, dass mir meine zarten akademischen Finger keinen mentalen Halt geben würden im Kampf gegen meine abgebrühten Kollegen, die schon in ihrer Kindheit nicht Mathematiker werden wollten wie ich, sondern Feuerwehrmann oder Polizist. Ich hatte keine Chance – mein Kampf schien verloren.

Bis… ja bis wir dieses kleine Schild entdeckten am Eingang zur Monsterachterbahn, auf dem stand: „Wegen Wartungsarbeiten heute leider außer Betrieb“.

Der ehrenhafte Ausgang des kompetetiven Tages rückte für mich also wieder greifbar nahe, und wir verschlangen vor der geschlossenen Höllenmaschine erstmal je einen Haufen Spaghetti Bolognese.

Mit prallem Magen ging es dann weiter mit der Reise auf den immer wilder werdenden Achterbahnen – und durch den Wegfall des Monsterteils bliebt nur noch die zweitschlimmste Variante als Hürde übrig.

Meine Führungsposition auf der Mut-Skala hatte ich jedoch noch nicht wirklich markieren können. Denn gemeinsam mit dem mutigsten Rest meiner Kollegen (also allen außer jener Grafikerin) stürzten wir uns als fast geschlossenes Team in die Schluchten der nächsten Achterbahn.

Da dieser Bahn an Heldentum nichts weiteres mehr folgen würde, dachte ich mir eine besondere Form aus, wie ich meinen Thron markieren konnte: ich nahm mein damals noch seltenes Smartphone aus der Tasche (sowas hatten damals nur die coolsten Hunde) und begann mich bei der Abfahrt selbst zu filmen.

Dazu muss man wissen, dass diese Urahnen des iPhone noch ungleich weniger leicht zu bedienen und kontrollieren waren. Insbesondere konnte man nicht so einfach erkennen, ob der Knochen einen wirklich filmen würde oder nicht. Der Druck auf den richtigen Knopf war das einzige Indiz.

Statt mich also – wie alle anderen in der Bahn – an den seitlichen Griffen festzuhalten, hielt ich meine Kamera mit ausgestreckten Armen vor mir hoch. Bei der Losfahrt drückte ich diesen „Jetzt filmen“-Knopf einmal, und dann ging es steil bergab.

Auch sprichwörtlich, denn ohne seitlichen Halt war auch diese zweitschlimmste Bahn schon weit außerhalb meiner eigentlichen Komfortzone. Es schlug mich als immer unverhoffter und härter von links nach rechts, und von rechts nach links, während ich munter in die Linse lächelte und so zu schauen versuchte, als wäre ich ein Held. Meine ganze verkrampfte Aufmerksamkeit galt meinem unverkrampften Gesichtsausdruck. Und der Herausforderung die Kamera jetzt nicht fallen zu lassen.

Nach einer gefühlten Ewigkeit kamen wir unten an und zum Stehen. Ich drückte den Auslöser ein zweites Mal und drehte die Kamera sofort um und schaute zur Kontrolle der Aufzeichnung ins Display. Doch da sah ich ein Live-Bild, und trotz aller flauen Gefühle im frisch mit Spaghetti gefüllten Magen war mir sofort klar: verdammt, ich hatte erst beim Ende der Fahrt zu filmen begonnen.

Kurzum: ich blieb sitzen und fuhr sofort ein zweites Mal mit. So kurz vor dem Ziel kann man ja nicht aufgeben. Rumore es im Magen, was es wolle.

Doch hatte ich vergessen, dass jede Gondel beim Hinauffahren ihre Richtung änderte – ich also bei meiner zweiten Fahrt nicht nur wieder freihändig, sondern diesmal auch rücklings durch die Bahn geschleudert werden würde.

Sei‘s drum, dachte ich, in wenigen Minuten habe ich das hinter und meinen ewigen Ruhm vor mir.

Wieder ruckte und zuckte ich also die Bahn hinunter, hielt statt mich die Kamera fest und war mir dieses Mal ganz sicher, davor auch den richtigen Knopf gedrückt zu haben. Nur die Spaghetti waren bereits auf, sagen wir, halben Weg zurück dorthin, wo ich sie reingetan hatte. Aber egal, Mund zu und durch!

Als der Held dieser Geschichte schließlich zurück bei den Sterblichen im Erdgeschoss gelandet war, galt es keine Zeit zu verlieren!

Schnell noch den Aus-Knopf der Kamera gedrückt und dann aus der Gondel gehechtet und im Sprint in Richtung der grünen Wiese vor der Achterbahn.

Diese fünf Sekunden bis zu meiner Ankunft in der Natur waren verdammt lang. Kaum war die Wiese in Spuckweite, forderten die Spaghetti ihren Tribut meiner turbulenten Reise: ich ließ sie im hohen Bogen wieder raus und verbrachte die folgenden Minuten gekrümmt auf meinen Knien gleich neben der Kotze auf der Wiese.

Die Kamera hatte ich dabei fallen gelassen, zum Glück mit der Linse nach unten in der Wiese.

Und weil ich Depp auch beim zweiten Mal das Filmen erst beim Ende meiner Fahrt aktiviert hatte, bekamen mein Team und ich dieses wundersame Tonspur als Souvenir:  Der Chef, wie er würgend zur Wiese sprintet, dort lautstark kotzt und danach noch voller Selbstmitleid eine Minute lang ächzend jammert.

Meine Position als Held der Firma hatte ich fraglos erreicht – wenn auch in einer gänzlich anderen Disziplin als erhofft.

Und dieser neue Klingelton war der Hammer!

About Peter Eich

Mathematiker und Philosoph eigentlich, Seriengründer und Investor tatsächlich. Gründer von Inselhüpfen, Radweg-Reisen, Bikemap, Toursprung, Tourbook, Bodensee-Verlag, und Cyclesummit. Außerdem Referent, Immobilien-Investor, Pilot, NLP-Coach und Barista. Und meistens unterwegs.