Vor einigen Monaten wurde ich Opfer einer Auseinandersetzung im Straßenverkehr. Ich fuhr abends in einer Stadt mit starkem Verkehr, als hinter mir ein Auto aufblendete. Wieder und wieder. Und wieder. Und wieder. Etwa 15 Mal.
Zu Beginn dachte ich, jemand hätte es eilig. Dann dachte ich es wäre die Polizei. Da ich nicht ausweichen konnte, blinkte ich links, verlangsamte vorsichtig und fuhr an den Rand, wo ich stehen blieb.
Es überholte mich ein alter Kombi und keilte mich so ein, dass ich nicht weiterfahren konnte. Ein Mann stieg aus und kam an meine Seite. Ich öffnete die Tür und erwartete still Auskunft über den Grund seiner Aktion, als er plötzlich begann auf mich einzuschlagen.
Da ich überrascht und angeschnallt war, konnte ich mich gegen den Täter kaum wehren und wurde sein Opfer.
Nach etwa zwei Minuten war der Kampf vorüber, er zog unkonkret schimpfend ab, fuhr gegen meinen Willen weiter und ließ mich leicht verletzt und stark verblüfft zurück auf der Straße mit viel Verkehr.
Es gab Zeugen, eine Anzeige und einen Strafbefehl gegen ihn.
Er hat mittlerweile Fahrverbot und eine für seine Verhältnisse deutliche Strafe zu bezahlen.
Meine Anwälte haben gewonnen, denn es wurde gerichtlich festgestellt:
Er ist der Täter, und ich bin das Opfer.
Meine Anwaltskosten sind jedoch knapp höher als seine Strafe, und ich könnte das und weitere Kosten in einem Zivilprozess gegen ihn geltend machen und ihm seinen alten Kombi pfänden lassen.
Aber ich lasse die Sache auf sich beruhen und will damit nichts mehr zu tun haben.
Mehr noch, ich habe eine sehr wichtige Sache für mich gelernt:
Ich will kein Opfer sein.
Und ich arbeite nun daran kein Opfer gewesen zu sein.
Denn als Opfer treffen mich die Handlungen des Täters. Als Opfer bin ich eine hilflose Figur. Als Opfer kann ich etwas nicht vermeiden. Als Opfer habe ich die Hoheit verloren über das, was mir passiert. Als Opfer trage ich keine Verantwortung, und damit insbesondere keinen Handlungsspielraum. Als Opfer bin ich passiv. Und als Opfer bin ich unfrei.
Doch das bin ich nicht, und das will ich nicht sein.
Ich möchte mein Leben gestalten. Ich möchte mich für jeden einzelnen Aspekt meines Lebens verantwortlich fühlen, im Guten wie im Schlechten. Ich möchte keine Ausrede haben und keine Entschuldigung. Ich möchte der Urheber von allem sein, was mir passiert. Ich möchte die volle Verantwortung für mein Leben haben.
Ich möchte kein Opfer sein, niemals, und in keiner noch so unangenehmen Angelegenheit.
Denn schon in der ersten halben Sekunde, wo ich Opfer werde, verliere ich meine Verantwortung, verliere ich meine Optionen, verliere ich meinen Handlungsspielraum und damit das Wichtigste, was ich habe: meine Freiheit.
Darum habe ich entschieden, dass ich diese Auseinandersetzung selbst in mein Leben gezogen habe. Um damit meine Freiheit zurück zu erlangen, etwas ähnliches in Zukunft auch vermeiden zu können. Ich habe mich für das Handeln entschieden und für die Freiheit. Und deswegen kann ich kein Opfer mehr sein.
Ganz konkret bedeutet das für mich, dass ich seit diesem Vorfall jede einzelnen Fahrt mit dem Auto mit einer Suche beginne. Nämlich mit der Suche nach einer Gelegenheit im Straßenverkehr jemandem einen Gefallen zu tun, eine Großzügigkeit zukommen zu lassen, eine Rücksicht zu gewähren. Um damit nicht zu reagieren, sondern zu handeln – alleine aus der Freiheit heraus es tun zu können.
Jedes Mal, wenn ich in mein Auto steige, beginnt nun meine Fahrt damit, dass ich diese eine Frau mit dem Kinderwagen suche, die ich vor mir über die Straße lassen kann (das ist sehr einfach). Oder den Typen auf der anderen Spur an der Ampel, dem ich mit einem Gruß signalisiere, dass er vor mir einscheren können wird, wenn es weiter geht (das ist relativ einfach). Oder der Drängler auf der Autobahn, für den ich die Spur wechsle, dort abbremse und innerlich dabei lächele (das ist nicht immer einfach). Oder der Parksplatzsuchende mit Zürcher Kennzeichen, der vor mir in meine Lücke will, und dem ich meinen Parkplatz aktiv anbiete und ihn anschließend von Herzen lächelnd begegne (das ist mitunter schwer).
Kurzum: ich versuche das Blatt zu wenden, wieder und wieder. Ich werde vom Opfer der Umstände zum Handelnden. Ich werde vom Geschnittenen zum Großzügigen. Ich werde Teil einer großzügigen und gut gelaunten Welt.
Und ich genieße meine Freiheit genau das zu tun.