Wenn Regeln ihre eigene Befolgung berücksichtigen

In Beziehung zu Zeit und Geschwindigkeit verhalten sich Deutschland und die Schweiz reziprok.

Und beide Länder werden 20 Jahre nach Kripke und über 50 Jahre nach Wittgenstein auf ihre jeweils eigene Weise der Behauptung gerecht, dass es keine nicht-semantische Fakten geben kann, welche die Bedeutung eines Wortes festlegen.

Wenn schon die Bedeutung eines Wortes nur sein Gebrauch in der Sprache ist, dann gilt das für Geschwindkeiten und Uhrzeiten allemal.

Doch der Reihe nach.

In jeder Kurve einer deutschen Straße, die am besten mit 100 km/h durchfahren werden sollte, ist die Geschwindigkeit auf maximal 80 km/h begrenzt.

Warum? Weil kein Deutscher es mit dem Tempolimit genau nimmt, denn bei bis zu 20 km/h Überschreitung passiert ja bekanntlich nichts. Somit braucht es ein Limit von 80, damit keiner schneller als 100 fährt. Irgendwie logisch.

Und so bestätigt jede deutsche Kurve erneut, dass man stets auch 20 km/h zu schnell noch sicher und bequem im die Ecke kommt.

(Die einzige mögliche Gefahr sind plötzlich auf- und ihre Bremse tretende Schweizer, die bei solchen Limits bekanntlich teuer und punktgenau konditioniert wurden.)

Was jedoch den Deutschen die Geschwindigkeiten, das sind den Schweizern die Uhrzeiten.

Wenn am Flughafen in Zürich um (genauer: ab) 08:40 in den Flieger eingestiegen werden soll, dann steht auf den Bordkarten sicherheitshalber schon mal 08:15 aufgedruckt.

So sieht das aus:

Auf meine naive hochdeutsche Frage, warum man nicht einfach die Uhrzeit aufdrucken könne, zu (genauer: ab) der man am Gate sein solle, wurde ich belehrt: es könnte ja vorkommen, dass der kurze Fußweg ein wenig länger dauere (übrigens ist schon das ein herrlicher Witz für jeden, der schonmal in Frankfurt ein- oder umgestiegen ist), und mit diesem aufgedruckten Sicherheispuffer wolle man sicherstellen, dass alle pünktlich am Gate ankämen.

Ich wünsche mir eine Welt, in der einfach nur das gesagt wird, was gemeint ist. Und ich bin auch bereit dafür meine beiden Jugendhelden Kripke und Wittgenstein zu verraten und all mein Kripkensteinerianertum gegen preakademische Naivität zu tauschen.

Regeln, denen ihre mangelhafte Befolgung bereits inhärent ist, sind für rekursiv denkende Menschen mit chronischer Zeitnot nämlich nicht geeignet.

Das weiß niemand besser als mein Reisemonster.

About Peter Eich

Mathematiker und Philosoph eigentlich, Seriengründer und Investor tatsächlich. Gründer von Inselhüpfen, Radweg-Reisen, Bikemap, Toursprung, Tourbook, Bodensee-Verlag, und Cyclesummit. Außerdem Referent, Immobilien-Investor, Pilot, NLP-Coach und Barista. Und meistens unterwegs.